Künstlergespräch: Marianne Müller mit Patrick Frey, in der Galerie Susanna Kulli, St. Gallen

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Zu der Ausstellung

Im Rahmen der Ausstellung Marianne Müller, Neue Fotografien ein Künstlergespräch mit Patrick Frey am 12. Novemer 1995.

SUSANNA KULLI: Mit den von Gerwald Rockenschaub positionierten Wänden entstand hier in der Galerie eine neue Raumsituation, und ich freute mich sehr darauf, diese mit einer neuen Künstlerin zu erproben: mit Marianne Müller. An einer Gruppenausstellung in der Filiale Basel, begegnete ich erstmals den Arbeiten von Marianne Müller. Das war vor zwei Jahren. Gezeigt wurden eine Serie Selbstporträts sowie Fotos von Besen und Flaumern, wie die so rumstehen, von Kleidern in Kästen usw. Vor allem die Selbstporträts beeindruckten mich sehr, da ich annahm, dass die Serie in einem Zeitraum von einem Jahr entstanden sei. Es stellte sich dannaber nachträglich heraus, dass Marianne Müller diese Fotos von sich selbst binnen eines Monats gemacht hatte. Die Besen und Flaumer liessen mich eher unbeeindruckt, bis ich in meinem Alltag zu Hause in den Kästen und der Besenkammer ähnliche Bilder wahr nahm, ausgelöst durch das, was Marianne Müllers Fotografien zeigten. Wir kamen ins Gespräch und vereinbarten eine Ausstellung fürs Frühjahr 1995, die durch Marianne Müller von Monat zu Monat verschoben wurde, da das Material für sie nie das Richtige war. Wenn ich mir jetzt die Ausstellung ansehe, bin ich froh darüber, dass sie sich diese Zeit genommen hat.

1983 eröffnete ich meine Galerie in St. Gallen und schaute oft in Zürich vorbei.. Denn da gab es einen Kunsthistoriker und Kunstkritiker, der sich mitkraftvollem Engagement in Wort und Schrift und als Ausstellungsmacher für Künstler wie Martin Disler, Klaudia Schifferle, Fischli/Weiss u.a. einsetzte, für Künstler, die er noch heute auch mit seinem Verlag unterstützt. Ich freue mich sehr, dass du hier in St.Gallen angekommen bist Patrick. Nun aber wünsche ich Ihnen allen viel Freude am Gespräch.

PATRICK FREY: Dialogisch über etwas zu reden ist sehr schwierig, wenn es nicht einfach darum gehen soll, die Künstlerin darüber abzufragen, was sie mit ihren Werken gemeint hat. Ich möchte zuerst etwas sagen zu der Ordnung der Ausstellung, weil Fotografie es an sich hat, dass man sofort von dem spricht, was zu sehen ist, und man sich sehr wenig bei der Fotografie selbst aufhält. Zur Fotografie im Normalbereich gehört ja auch, dass man Fotografien ordnet und auswählt. Und Marianne Müller arbeitet eigentlich sehr ähnlich wie ein ritueller Fotograf, ein normaler Fotograf, der rituell Fotos macht von seiner Umgebung, seinen Dingen, seinen Menschen, die Fotos zur Erinnerung aufbewahrt und dann ordnet, eventuell in Alben, auch einzelne Bilder vergrössert und in einen Rahmen legt und aufstellt, sichtbar für alle, d.h. halböffentlich. Die Ordnung hier ginge von diesem fotografischen Zettelkasten aus, dem Grundarchiv, und käme dann, von diesem Zettelkasten ausgehend, zu den Fotografien hinter Glasscheiben in den Schachteln, und wiederum aus den Schachteln stammen nicht alle, aber in einer Auswahl einige der Fotos, die auf den Wänden sind. Vielleicht kannst du, Marianne, etwas über diesen Arbeitsprozess sagen, den du, glaube ich, so erstmals in eine Ausstellung einbringst?

MARIANNE MÜLLER: Es geht um die Masse. Fotografieren bedeutet ein Anhäufen von Bildmaterial und Wahrgenommenem. Das Auswählen ist dann der erste Schritt, bei dem ich mir selber bewusst mache, was mich wirklich interessiert und welche Bilder oder Erinnerungen ich weglegen kann, weil sie nicht von Bedeutung sind. Das Ausgangsmaterial sind 9 x l3 Vergrösserungen, die ich bei Migros oder bei Coop machen lasse; ich krieg dann quasi einen Ferienfilm zurück. Und diese Fotos lege ich als kleines Büchlein mit einer Nummer ab, mein Archiv. Und dann ziehe ich aus den Büchlein einzelne Bilder oder Abfolgen von Bildern heraus, die mir wichtig sind oder die mir gefallen, schiebe sie rum und ordne sie neu, und daraus entstehen die Schachteln. Ein erstes Editing, wie der Rohschnitt bei einem Film. Diese Schachteln habe ich zuerst für Freunde gemacht. Darin waren Bilder von mir, die mit mir und der Person zu tun haben und vielleicht noch mit etwas ganz anderem. Ein Paket, das verständlich ist für den Empfänger, weil es gemeinsame Erinnerungen enthält. Später wurde mir klar, dass dieser Reduktionsprozess und das Anlegen der Schachteln als Produkte im Umgang mit meiner Arbeit richtig ist. Ich kann ganze Geschichten in Schachteln erzählen, und das lässt mir einfach viel Freiraum; das Durchmischen von Situationen zu linearen Geschichten, die Kombination zweier verschiedener Sachen etc. Und der Betrachter hat immer noch die Möglichkeit, die Abfolge der Bildpaare innerhalb der Schachteln wieder neu zu ordnen und dabei hinten und vorne der Bildpaare zu beachten oder nicht zu beachten. Im Hinblick auf den Ausstellungsraum hier wurde mir klar, dass es sich bei den Bilderschachteln um Objekte handelt, die ich weder auf der Wand noch auf Sockeln präsentieren kann. Die Schachteln sind dann am besten, wenn sie zu jemandem gehören oder wenn sie irgendwo sind, liegen, gebraucht werden, im Bücherschrank, auf dem Schreibtisch, neben dem Bett. Ich fand aber, dass es gute Bilder darunter gibt, die man gross machen kann, dass sie gross eigentlich besser sind, weil die kleinen Formate zu klein sind oder weil die Farbigkeit durch das "Billigprint" zu schlecht ist. Dann habe ich versucht, einzelne Bilder auszuwählen, die dann ihre Grösse kriegen sollten; die Grösse, die zu dem Bild stimmt, seine absolute Grösse, unabhängig vom Raum. Zusätzlich habe ich die Ebene der vielen gleichwertig behandelten Vergrösserungen eingefügt. Es sind alles die gleichen 30 x 45 oder 45 x 30 Formate. Eine grosse, heterogene Gruppe von einzelnen Bildern, die, wie in den Schachteln, lose nebeneinander existieren. Die so bestückte Wand hier zeigt eine mögliche Anordnung, die in einer nächsten Ausstellung wieder anders wird. Mir ist es wichtig, dass sich die ganze Arbeit bewegt, dass die Präsentation eine momentane Lösung darstellt, die den Produktionsprozess nicht beschönigt und die auch nicht auf ihn zurückschlägt.

PATRICK FREY: Aber du wertest die Fotografien als einzelne Bilder. Du hast jetzt einzelne Bilder grösser gemacht und in Zweier-, in Dreiergruppen, andere in grösseren Gruppen angeordnet. Nach welchen Kriterien hast du dich entschieden, einzelne ziemlich gross zu machen und andere kleiner zu lassen oder in grössere Gruppen einzubringen?

MARIANNE MÜLLER: Ich musste irgendwo anfangen. Insgesamt gibt es nach diesem Jahr zweitausend Bilder, und dann gab es die, die mir die liebsten waren. Und die musste ich gross sehen. Vielleicht ist dann mein Interesse an ihnen etwas erloschen, weil ich weiss, diese Fotos existieren nun als Bilder, sie bestehen, und ich kann mich wieder Neuem zuwenden.

PATRICK FREY: Also gross sind die Bilder, die du am liebsten hast.

MARIANNE MÜLLER: Oder die, die mir am meisten Angst gemacht haben. Oder bei denen ich mir dachte, das muss ich jetzt grösser sehen, damit sie eine physische Präsenz entwickeln und einen angucken.

PATRICK FREY: Und gibt es einen spezifischen Grund, warum du eigentlich die Fotografie nie dazu benützt, einzelne Bilder herzustellen? Also ich glaube auch, dass diese Wolkenhimmel als zwei Bilder zu verstehen sind. Es gibt zwei davon in der Ausstellung. Warum gibt es nicht nur eins davon? Kannst du diese Paar- oder Dreierbildung erläutern?

MARIANNE MÜLLER: Ich habe gemerkt, dass diese Art und Weise zu fotografieren mir die Möglichkeit bietet, alles zu fotografieren, was ich möchte. Ich kann Landschaften fotografieren, ich kann Blumen fotografieren, ich kann Porträts machen, ich kann auf der Strasse fotografieren, bei mir zu Hause, ich kann mich selbst fotografieren. Das ist als Anlage so offen, dass es mir alles erlaubt. Durch die Menge gibt es dann, entlang den bestehenden Genres, die Landschaftsbilder, es gibt die Kleiderbilder, es gibt die Bettenbilder, es gibt die Selbstporträts, es gibt die Blumenbilder. Also Gruppen oder, wenn ich in der Abfolge hintereinander dasselbe fotografiere, Sequenzen. Ich verstehe die Bilder als Einzelbilder, aber ich stelle ihnen gerne Varianten zur Seite, um sie etwas zu entlasten. Auch inhaltlich. Zum Beispiel: Das ist das Bett, in dem ich schlafe. Mein Bett. Aber ich schlafe auch in diesem oder jenem Bett. Variation als der immer wieder unternommene Versuch, etwas genauer an die Wirklichkeit heranzukommen und die Wahrheit um das z.B. beschlafene Bett etwas zu erweitern. Durch die Gruppenbildungen versuche ich also nicht, zusätzliche Bedeutung zu schaffen im Sinne einer Synthese, sondern eher Bedeutung zu relativieren, um Konnotationen Raum zu geben.

PATRICK FREY: Für mich ist es so, dass die ganze Ausstellung auch wieder ins Archiv zurückkehren könnte. Diese Art und Weise zu fotografieren, die sich so stark an das normale Fotografieren annähert, bedeutet eben, dass die Bilder transitorisch an den Wänden sind und dass das eigentliche Herz dieser Fotografie in der Sammlung besteht oder in der Schachtel, in einer Art Archiv.

Was mich an Mariannes Fotografie interessiert, ist, dass sie auf eine sehr beeindruckende Weise mit dem arbeitet, was zu sehen ist, und mit dem, was nicht zu sehen ist, mit Kontext, Bedeutungen. Die Eigenschaft der Fotografie, dass sie etwas Wirkliches zeigt, ohne zu sagen, was es bedeutet, ist etwas vom Wesentlichsten, was man beim Fotografieren zum Vorschein bringen kann. Vielleicht dort, bei diesem Hotelbett, ist es geradezu offensichtlich, da man den Körper sieht oder zu sehen glaubt. Man weiss aber absolut nicht, was dieser Körper bedeutet. Da ist eine Symbolik, die sich entwickelt, die immer labil und immer vorläufig ist. Da ist immer eine Wirklichkeit, die sich abbildet, die projektiert wurde, die irgendeinen Sachverhalt wiedergab, der gestimmt hat, der wirklich und wahr war und um den man nicht weiss. Und diesen Schwebezustand gibt es auch in vielen anderen Bildern, wo es um das Thema der Intimität geht, des Körpers, der Sexualität und Erotik. Es ist immer so, dass die Fotografie etwas zeigt und nicht sagt, was sie damit meint. Meistens schaut man darüber hinweg, weil man sofort die Bedeutung sieht, die man sehen will. Bei diesen drei Hotelzimmer-Bildern hier ist es erstaunlich, dass die Pose der Hände, die Bedeckung des Gesichts quasi einhergeht mit einer Aggressivität des Körpers. Der Körper schiebt sich nach vorn, und das Gesicht, wo sich der Ausdruck findet, den wir am meisten zu lesen gewohnt sind, verschiebt sich nach hinten und verbirgt sich mehr. Das heisst es verschiebt sich so ein Gleichgewicht des Aufdeckens und Verhüllens, der Verführung und der Zurückstossung. Ich weiss nicht, wie bewusst du solche Konstruktionen herstellst. Auch ist das eine Foto kleiner als die beiden übrigen.

MARIANNE MÜLLER: Ich habe das nicht gesehen. Ich habe das mit dem Bedecken des Gesichts parallel zum Zeigen des Körpers nicht gesehen. Es ist mir völlig klar, dass in dem Moment, als ich das fotografiert habe, dass ich das als Reflex, gefühlsmässig, so gemacht habe. Also das Geben und Wegnehmen. Was ich gesehen habe, ist, dass es wie ein Bewegungsablauf ist, jetzt in der Auswahl, diese Drehung des Körpers, die sehr filmisch ist. Das ist ganz bewusst so hergestellt. Die Geschichte der Hände habe ich so nie gesehen, sie ist nicht bewusst. Sie macht einfach einen Teil der kleinen Geschichte aus. Aber entstanden ist die Abfolge eigentlich im Liegen oder im Machen, nicht auf der Ebene des Bildes, im Liegen als Reaktion darauf, dass ich wusste, dass ich mich fotografierte.

PATRICK FREY: Aus wieviel Bildern hast du diese Sequenz ausgewählt? Du hast nur diese drei gemacht?

MARIANNE MÜLLER:Es gibt noch ein viertes, auf dem ich ganz mit dem Rücken zur Kamera liege, mit der schrägen Einstellung, wie die kleinere Aufnahme hier. Aber das wäre zu grob geworden. Die Sequenz funktioniert mit drei Bildern besser.

PATRICK FREY: Du hast einmal gesagt, was dir an diesem Bild gefällt, ist, dass der Körper so schwer ist. Ich habe nicht ganz verstanden, was du damit gemeint hast.

MARIANNE MÜLLER: Das Brisante an den Fotos ist, dass da einfach mein Körper liegt, sinnlich und doch sehr unerwartet. Das richtig Interessante an den Bildern ist, dass der Körper so schwer und offen liegt, also nicht dass er liegt, sondern wie er liegt, und dass man das spüren kann, das Gewicht, obwohl es nur eine Fotografie ist, und das hat unter anderem mit dem Format zu tun. Das spürt man z.B. im kleinen Format überhaupt nicht.

PATRICK FREY: Roland Barthes hat ein sehr schönes Buch über Fotografie geschrieben. Es heisst "Die helle Kammer". Darin steht ein Begriff, den er "punctum" nennt und vom "studium" unterscheidet. Das "studium" ist an der Fotografie interessiert; man studiert die fotografische Bildoberfläche und findet heraus, was darauf dargestellt ist, man entdeckt eine Komposition etc. Mit "punctum" ist ein Detail der Fotografie gemeint, das einem in die Augen springt, das man nicht mehr vergisst, das einem die ganze Fotografie in Frage stellt; es muss nicht im Zentrum sein, und es muss auch nicht der primäre Bildgegenstand sein. Aber das sind die Fotografien, die für ihn wirklich wichtig sind. Man könnte auch Fotografien auf dieses "punctum" hin für sich selber abtasten, sich fragen, ob einen etwas am Bild irritiere. Bei diesen Blüten z.B. gibt es gewisse Blütenblätter, die so müde abfallen. Die Störung der rein bildhaften Wahrnehmung offenbart sich vielleicht am deutlichsten in diesem Schon-verwelkt-Sein. Bei diesem "Hotelzimmer-Bild" dort gab es für mich zwei auffällige Stellen. Diese Lampe dort einmal, und das andere ist das Detail da oben, diese Gegenstände im Schrank. Ich habe Marianne gefragt, was das sei, und sie sagte, das sei etwas vom Hotel, irgendwelche Schuhputzutensilien. Und ich habe dann gesagt, dass man diese Nichtzugehörigkeit zu deinem Körper sieht, diese Fremdheit. Die Lampe und die Gegenstände im Schrank bewirken also eine veränderte Wahrnehmung des Körpers, bewirken, dass die offensive Erotik mit diesem bis an die Bildhaut vorstossenden Knie sich in diesem Hotelzimmer gleichsam aufhebt, vieldeutig wird. Oder es gibt diese Öffnung bei dem "Roten Kleid", die einen Einblick in das Kleid gewährt. Das Kleid, das hängt, ist ja auch der Körper, der imaginäre, der nicht da ist, und diese Öffnung ist wie ein Blick auf diesen verborgenen imaginären Körper. Vielleicht müsste man Marianne eine Frage zu dieser Intimität der Situation stellen. Also du fotografierst dich ja selbst, du hast einen Selbstauslöser, und du bist mit dir selbst allein, wenn du diese Fotografien machst. Die Frage wäre eigentlich: Welches Bewusstsein hast du in diesem Augenblick von dir selbst? Machst du dich zum Objekt deiner eigenen Fotografien in diesem Moment? Oder wie ist das?

MARIANNE MÜLLER: Es gibt doch die Momente, in denen man intensiv mit etwas beschäftigt ist und sich dann plötzlich wie von aussen selber beobachtet, wie wenn man auf eine fremde Szenerie guckt. Wenn ich mit mir allein bin, gibt es das manchmal, dass etwas in der Luft liegt, eine Langeweile oder vielleicht eine Erotik, und die möchte ich gerne sehen, verzögert eben, erinnert. Um zu sehen, ob man sehen kann, was es ist und wo es sich festmacht. ähnlich wie wenn man beim Liebemachen plötzlich unbedingt alles ganz genau sehen möchte: Es ist wahr, es sieht so aus, das ist mein Körper, und da beginnt er, und da hört er auf. Der Vergleich mit dem Liebesakt ist etwas falsch dimensioniert, aber die Frage, ob ich mich beim Fotografieren zum Objekt mache, lässt sich so gut erklären. Ich mache mich nicht zum Objekt, wenn ich in den intimen Momenten fotografiere, sondern bin schon Objekt meiner selbst und erwidere quasi den Blick. Es fällt mir an und für sich schwer, Bilder zu machen. Weil ich nur da Bilder machen kann, wo ich mich auskenne, wo ich weiss, wo das ist, wer das ist, wieso das da ist, wieso das so ist. Und dann fotografiere ich aus unterschiedlichsten Gründen. Manchmal fotografiere ich, weil ich z.B. nicht arbeiten möchte, den Kleiderhaufen, die Wäsche, die da liegt und gewaschen werden muss. Dennoch weiss ich, mit dem musst du dich jetzt beschäftigen, und fotografiere es. Ich beschäftige mich zwar mit den aufzuräumenden Kleidern, aber ich mache etwas Eigenes damit. Bei den Selbstaufnahmen ist es eher so: Ich muss mir die Haare waschen, liege in der Badewanne, und dann sehe ich etwas an mir, aus irgendeinem Grund, und dann fotografiere ich es. Wenn eine andere Person an meiner Statt in der Badewanne läge, dann würde ich das wahrscheinlich gerne fotografieren wollen. Aber ich würde mich nicht trauen, und dann wäre der Moment vorbei, der Schaum nicht mehr so schön. Und ich wüsste dann auch, ich müsste jetzt fragen, ob ich fotografieren dürfe, und ich möchte nicht, dass die Anwesenheit meiner Kamera die Situation verändert. Mit anderen Menschen ist es einfach viel komplizierter. Wie macht man das?

PATRICK FREY: Wie macht man was?

MARIANNE MÜLLER: Andere Leute fotografieren.

PATRICK FREY: Du weisst nicht, was sie zeigen sollen? Da vorne hängt diese Serie von einem Knaben. Das ist ja auch nicht irgend jemand, sondern dein Neffe. Also ich finde es auch wichtig, wer auf den Fotografien ist. Es ist übrigens auch ein schönes Beispiel für den Charakter des Imaginären in der Fotografie. Wenn man dieses Bild anschaut, dann hat man den Eindruck, dass dieser Junge er hat sehr schöne Augen übrigens lauscht, er hat einen Kopfhörer im Ohr, er schaut und lauscht und ist ganz in sich gekehrt. Man überlegt sich, was er wohl hört. Diese Fotografie hat eine wunderbare Wirkung, weil man weiss, da war eine Musik, da war etwas, das er hört, das kann eben kein gemaltes Bild sein, kein "Bild eines Knaben, der einer Musik lauscht", da muss etwas gewesen sein, sonst würde er nicht so schauen. Das Tolle an der Fotografie ist, dass man nicht weiss, was er hört oder was er wirklich gehört hat. Marianne hat mir gesagt, er hat den Strassenzustandsbericht des TCS gehört, hinten im Auto. Das ist ein gutes Beispiel für das Imaginäre der Fotografie, für ihre Fähigkeit zu Wundern und Täuschungen. Es ist eben so, dass die Fotografie eine paradoxe Mischung ist aus dem Signal, dass da etwas war, etwas unzweifelhaft Wirkliches, und dem gleichzeitigen Signal, dass dieses im Licht stehende Reale eine fotochemisch hergestellte Konstellation vollkommen obskurer Bedeutungen darstellt. Das ist auch sehr schön an diesen Wolkenbildern zu sehen. Diese Unklarheit, ob das ein Nebelmeer ist oder ein Himmel. Und trotzdem weiss man, dass es eine Fotografie ist, dass es ein Himmel ist, Luft. Die Aufklärung ist: Man sitzt im Flugzeug. Die Fotografie kann so einen Zwischenzustand erreichen zwischen Halluzination und Wirklichkeit.

Es gibt ja diese schwarzweiss Blüten, diese Oleander, die du mit einem Blitz fotografiert hast und auf denen alles Blütenhafte durch das Licht wie erschlagen wird. Sie bestehen eigentlich nur noch aus Licht, diese Oleander. Das Schöne ist, dass die Fotografie das eben kann. Wichtig ist bei diesen beiden Blütenbildern nicht die Blüte selbst, sondern dass du in dem Moment da warst, dass der Blitz diese Blüten weiss macht und kurz aus der Nacht heraushebt. Da weiss man wenig über die Blüten, aber man weiss sehr viel über diesen Moment des Blütenfotografierens. Vielleicht ist es der Sinn von aller rituellen Fotografie, die im normalen Bereich stattfindet, dass man sich vergewissern will, dass man dort gewesen ist oder nur dass man überhaupt gewesen ist, letztendlich. Die Fotografie enthält auch immer den Hinweis darauf, dass die abgebildete Person sterblich ist, weil sie wirklich ist. Jede Fotografie weist darauf hin, dass ein Ende eintreten wird oder bereits eingetreten ist, ein Verwelken, ein Tod. Wenn eine Fotografie nicht klar datierbar ist, könnte man auch denken, dass die Person schon gestorben ist. Die Blüte steht vielleicht nicht mehr hier, und dieses Bild ist bereits ein Denkmal für dieses Gewächs. Dieser zutiefst melancholische Grundzug der Fotografie kommt aber nur zum Vorschein, wenn die Fotografie nicht als Kunstfotografie betrieben wird.

MARIANNE MÜLLER: Denkst du, dass das eingeblendete Datum was dazu tut?

PATRICK FREY: Ja, es ist eigentlich nur konsequent. Eigentlich müsste bei jeder Fotografie auch eine Legende stehen, die immer sagt, es war so dann und dann, so war es dann und dann, oder ich war dort dann und dann. Das ist die unsichtbare Legende, die unter jeder Fotografie steht, die nicht Kunstfotografie ist im Sinne von etwas Losgelöstem, das man herstellt, oder z.B. Modefotografie, obschon der Modefotograf dieses Modell auch dann und dann fotografiert hat. Die Spuren des Charakters der Fotografie, der auf die Vergänglichkeit hinweist, hat er aber bis zur Vollständigkeit getilgt. Dort findet man nichts mehr, was nicht zum Konzept, sondern zur Wirklichkeit gehört. Man würde nichts mehr finden in einer guten Modefotografie. Auch in einer guten Kunstfotografie findet man eigentlich nichts mehr; auf Fotografien, wie Günther Förg sie z.B. macht, da gibt es auch nichts mehr. Marianne Müllers Fotografien aber sind nicht zeitlos. Es gibt ja diesen Anspruch immer wieder, auch jetzt noch, Fotografien zu machen, die zeitlos sind.

MARIANNE MÜLLER: Und das Verfallsdatum für Bilder? Plus l4 Tage, plus drei Jahre?

PATRICK FREY: Also falls Fotografien über das Private, das Lebenszeitliche hinausgehen oder falls deine Fotos darüber hinausgehen, dass du nur dich selbst abbildest, dann hat das eben gerade nichts mit Zeitlosigkeit zu tun. Nicht, dass diese Fotos aus irgendeinem Grunde zeitlos werden in dem Sinn, dass sie die Zeit, den Zeitpunkt verleugnen, in dem sie entstanden sind. Diese Art von Fotografie würde mich persönlich nicht mehr interessieren, in keinerArt und Weise. Ich glaube, dass die Meinung noch ziemlich weit verbreitet ist, dass sich die Fotografie nur oder doch vor allem als Kunst legitimieren könnte, indem sie eben diesen zeitlosen Aspekt entwickelt. In einem gewissen Sinn ist das gerade falsch, denn Fotografien stellen einfach Zeitpunkte dar.

MARIANNE MÜLLER: Womit hat dann die Allgemeingültikeit zu tun, wenn nicht mit der Zeit?

PATRICK FREY: Das Zeitpunkthafte ist das Allgemeingültige. Gerade dass die Fotografien dermassen scharf einen unwiederbringlichen Zeitpunkt darstellen, ist das Wesentliche an ihnen.

MARIANNE MÜLLER: Im Gegenzug zur Zeitlosigkeit.

PATRICK FREY: Sie sind ein Schnitt, ein harter Schnitt im Fluss der Zeit. Sie können keine Zeiten umfassen. Sie können zwar bedeutungsmässig für eine Zeit stehen, weil man sie mit Bedeutung aufgeladen hat wie die Reportagefotos; es gibt diese berühmten Fotos, auf denen z.B. ein GI-Offizier die Pistole an den Kopf eines Vietnamesen hält. Solche Fotos werden dann zu einem allgemeingültigen Bild aufgeladen. Aber das eigentlich Dramatische dieser Fotos ist dieser unwiderufliche Zeitpunkt, den sie erfassen, und nichts anderes. Wenn man sie hingegen in die Schublade der zeitlosen Bilder schiebt, so ist das nur eben Kultivierung oder Bändigung der Fotografie. Dann bändigt man dieses Archaische der Fotografie, das einzig Archaische daran, dass sie diesen unwiederholbaren Zeitpunkt öffnet. Es wäre interessant, herauszufinden denn ich weiss es nicht, was denn das wirklich entscheidet, warum ein Foto allgemeingültig wird, wenn das nicht über die Zeit möglich ist. Wie kann etwas allgemeingültiger oder ins Allgemeinere transzendiert werden, wenn es nur aus diesem Schnitt in der Zeit besteht?

PUBLIKUM: Also ich denke gerade an die Bilder von Edward Weston, die durch konsequente Komposition doch in dieses Zeitlose hineinkommen.

PATRICK FREY: Ich weiss, es gibt viele Fotografien, die dies behaupten.

PUBLIKUM: Bei Weston glaube ich dies jetzt auch. Ich denke z.B. an seine Peperoni oder an seine Frauenkörper.

PATRICK FREY: Aber mich interessiert, auch wenn ich einen Frauenakt oder was immer anschaue, eben trotzdem mehr, was denn da genau passiert ist. Wo war der Fotograf? Wer ist diese Frau? Was hat er gemacht, um diese Situation so hinzukriegen? Ich kann einen solchen Akt nicht gleich anschauen wie einen Akt von Valloton. Das geht nicht. Es ist einfach nicht dasselbe.

MARIANNE MÜLLER: Edward Weston ist ein gutes Beispiel für die Loslösung der Kunst, also der Fotografie, vom Leben.

PATRICK FREY: Natürlich, er versucht es.

MARIANNE MÜLLER: Ich weiss nicht, ob Weston manchmal Modelle hatte. Aber die berühmten Akte, die im Sand, zeigen Charis Wilson, seine Frau, und es gibt viele Akte von Tina Modotti, die selber Fotografin war und mit der er seit den 20er Jahren eine Liebesbeziehung hatte. Weston versuchte, diese private Erotik aus der Kunst rauszukriegen, den Akt so neutral wie möglich zu fotografieren. Es ist eigentlich alles Leben von diesen Bildern abgezogen worden, wegabstrahiert, und was bleibt, ist die reine Form.

PATRICK FREY: Es gibt in Barthes' Buch eine Bemerkung über diesen fallenden Milchtropfen. Harold D. Edgerton, ein amerikanischer Fotograf, hat sich damit beschäftigt, einen Milchtropfen, der fällt, zu fotografieren. Und Barthes sagt dazu, das interessiere ihn nur studiumshalber, dieser Milchtropfen. Das ist vielleicht der extremste Versuch, die Zeit, die vergehende Zeit, einzufrieren in einen Moment, der dann zeitlos wird. Es gibt diese ganze Tradition der Sachfotografie auch in der Schweiz der 30er bis 50er Jahre. Wir kennen sie alle. Diese Fotografie empfinde ich nicht als wesenhaft fotografisch. Ich empfinde sie als Versuch, mit Hilfe von Fotografie grafisch oder malerisch zu arbeiten. Ich glaube, dass dieses Missverständnis über die Fotografie was sie eigentlich ist und was sie eben nicht ist, wozu sie dienen kann und wozu eben nicht tief verwurzelt ist, weil man für gute Kunstfotografie immer noch diese Beispiele heranzieht und das Wesentliche der Fotografie den Amateuren überlässt. Jedenfalls findet das dort statt. Denn in unseren eigenen Fotoalben ist das Wesentliche der Fotografie verborgen, glaube ich. Erst in den letzten vielleicht zehn Jahren wurde das auch für die Künstler klar.

MARIANNE MÜLLER: Ich hatte manchmal Gespräche mit meiner Familie um diese Missverständnisse herum. Ich bin Fotografin und ging fünf Jahre dafür zur Schule. Immer wenn ich Familienanlässe fotografierte, war das aber unscharf oder von der falschen Seite, oder es war komisch geschnitten, oder es war zu nah. Es gab leise Zweifel an meiner Ausbildung, mehr noch an meinem Willen oder Nichtwillen, das gut machen zu wollen. Mit der Zeit wurde es anders, und die Familie, wenn sie Bilder aus Amerika oder Australien nach Hause bringt, sagt: "Aber du brauchst nicht auf die Fotografie zu gucken." Die Verwirrung ist doppelt, weil es ihnen nun auch nicht mehr klar ist, was ein gutes Bild ist: "Was ist jetzt richtiger? Was ist nun falsch? Wenn es zu schön ist oder zu wenig schön?" Sie haben den Eindruck, um quasi höheren Kriterien zu genügen, müsse es jetzt auch unscharf sein. Und ich sage dann immer: "Nein, nein, das ist alles wunderbar. Ich könnte wirklich nicht zum richtigen Zeitpunkt dasein und abdrücken." Wenn ich auf Reisen bin, stehe ich auch immer während des falschen Tageslichts am falschen Ort, weil z.B. der Berg nicht im Abendrot steht. Und ich bewundere die Amateure definitiv, dass sie sich darauf einlassen können, dass das jetzt die Landschaft ist, das die Situation usw., und dass sie sie wirklich nicht verpassen.

PATRICK FREY: Die Verwirrung ist gross. Sie ist auch bei den Künstlern gross. Es kommen mir da zwei Sachen in den Sinn. Peter Fischli sagte mir einmal, dass an vielen der "schönen Aussichtspunkte", die sie für ihre Foto- und Videoarbeiten besuchten, immer schon ein oder mehrere Berufs- oder Amateurfotografen gestanden hätten mit dem Stativ und der ganzen übrigen Apparatur. Die fotografierten vielleicht den identischen Landschaftsausschnitt, aber dennoch liegen natürlich Welten zwischen ihrer fotografischen Identität und derjenigen von Fischli/Weiss. Und das andere ist Hugo Suter, der am Hallwiler See lebt, in einer Idylle, und eigentlich seit Jahren nur Aspekte, Fragmente abbildet, Vorgänge auf dem See, winzige Teilvorgänge der Spiegelung auf dem Wasser. Mit ganz komplizierten Methoden. Zum Teil sind das Bilder, die man nicht verstehen kann, wenn man sie nicht von ihm erklärt bekommt, zum Teil versteht man sie sehr gut. Und er hat mir mal gesagt: "Weisst du, am Sonntag kommen immer Maler an den See, die malen dann einfach den ganzen See. Ich könnte das nie." Eine ähnliche Verwirrung würde diese Maler vermutlich treffen, wenn sie sich Hugo Suters Experimente ansähen. Bei der Fotografie ist es im Moment sehr ähnlich. Auch bei den Berufsfotografen gibt es diese Verwirrung. Es gibt vielleicht drei Sorten von Fotografen. Die Amateure, die sich nicht bewusst sind, was sie eigentlich tun, sondern es einfach tun. So einer bin ich auch. Wenn ich meine Kinder fotografiere, dann fotografiere ich meine Kinder. Manchmal kommt mir später erst in den Sinn, dass dieses oder jenes noch eine 'gute' Fotografie sein könnte. Aber dann ist es eine Art von Überlegung, die auch sehr rätselhaft ist, warum ich jetzt gerade dieses eine Foto besser finde. Ist es ein grundsätzlicher Sinn für Ausdruck und Schönheit, vermischt mit der Normalüberlegung, dass da das Kind gut drauf ist oder dass da jemand lacht? Amateure, die bewusst gute Fotos machen, die fotografieren bewusst ihre Kinder nicht mehr oder auch sonst nichts, was man üblicherweise rituell fotografiert, sondern sie fotografieren vielleicht Baumrinde oder den Sandstrand von oben, besondere Stimmungen oder Nebel oder Regen, Amateure, die eine Art von gehobener Amateurfotografie machen. Und dann gibt es auf der anderen Seite die Künstler, die jetzt die Fotografie auf eine neue Art entdeckt haben und nicht mehr als technisches Medium sehen, nicht mehr als Experiment, sondern die Fotografie benutzen, um vielleicht etwas möglichst Unmittelbares einzufangen. Das ist schon immer noch ein Traum der Künstler, das Unvermittelte, dass die Kunst unvermittelt auf die Betrachter eindringt. Die Fotografie hat diese Möglichkeit. Künstler benutzen jetzt die Fotografie so, dass sie möglichst unvermittelt den Betrachter mit gewissen Inhalten konfrontieren kann. Wenn man dieses Medium, das diese Direktheit nebst aller Raffinesse besitzt, wenn man das richtig einsetzt, so bietet es die Möglichkeit des Unmittelbaren in einem unübertroffenen Ausmass.

MARIANNE MÜLLER: Fotografie ist im eigentlichen Sinn ein abbildendes, substraktives Verfahren. Ich sehe und wähle ganz bewusst und nicht sehr konzentriert aus ganz grossen Mengen von Vorhandenem einen Ausschnitt zu einem gewissen Zeitpunkt aus. Es ist etwas, was ich sehe und was mich in einer gewissen Art und Weise erregt. Ich bin einfach nicht gut genug im Inszenieren. Die Fotografie könnte ja auch im Studio stattfinden, vor einer weissen Leinwand oder einem schwarzen leeren Raum.

PATRICK FREY: Deine Arbeit unterscheidet sich in diesem wesentlichen Sinn auch von Urs Lüthis Arbeiten. Lüthi, der in diesen Hotelzimmern doch eine ziemlich grosse Inszenierung betrieben hat. Man muss vielleicht hinzufügen, dass die Fotografie heute viel stärker als noch vor 10 Jahren in Gefahr ist, ihre Faktizität, ihren Bezug zur Wirklichkeit total zu verlieren, absolut künstlich oder imaginär zu werden, da eine fotografische Bildoberfläche eben digital konstruiert, kalkuliert werden kann. Es gibt keine Garantie für Authentizität mehr. Inszenierte, nachgestellte oder sonstwie artifiziell konstruierte Fotos sind deshalb natürlich fragwürdiger geworden. Ihre prädigitale Künstlichkeit hat an Spannung verloren. Wenn Fotografien heute nicht einfach unwirklich werden wollen und damit vollkommen bedeutungslos, dann müssen sie eine Art von Ausdruck finden, der klar sagt, dass das jetzt z.B. ein Bild ist, das nicht manipuliert wurde. Wie man das macht, weiss ich auch nicht. Aber es geht jedenfalls in die Richtung, dass die Bilder diese unnachahmliche Präsenz des kurzen Moments haben müssen. Ich glaube, es gibt eine Art von Fotografie, die sehr schwierig zu simulieren ist, und eine andere, die sehr leicht mit Computer-Animationen und dergleichen simuliert werden kann. Die Künstler müssen sich, wenn sie die Magie der Fotografie nutzen wollen, eigentlich darum bemühen, eine Fotografie herzustellen, in der klar ist: Das ist hier passiert, das war einmal. Mit dieser unheimlich starken Aura. Wenn sie mit diesem Sinn arbeiten wollen, dann müssen sie sich sehr bemühen, eine Fotografie herzustellen, in der klar ist, dass man sie so nicht künstlich herstellen würde. Z.B. ist dieser Lichtschein auf dem Holz etwas, das man so nicht machen würde, wenn man die Fotografie auf dem Computer herstellen würde. Es ist nicht gerade ein Fehler, aber es ist ein bisschen ein Fehler. Ein Berufsfotograf würde diese Spiegelung bemerken und mit einem Mattspray zum Verschwinden bringen. Es gab diese Ausstellung "Zeichen und Wunder" von Bice Curiger im Kunsthaus Zürich, da waren auch die grossformatigen Fotografien des französischen Künstlerpaars Mylayne, die seit 20 Jahren zusammenarbeiten. Das war etwas vom Tollsten, was ich in den letzten zehn Jahren in Sachen Fotografie gesehen habe. Und das ist genau dasselbe. Die reisen in einem Wohnwagen in Frankreich herum und spüren Singvögel auf und gewöhnen diese an ihre Präsenz, warten ab, zähmen sie ein bisschen, durch Füttern z.B., und warten einfach ab, bis ein Vogel so vor dem Fenster durchfliegt, dass sie ihn genau im Vorbeiflug fotografieren können. Die Fotos sind umwerfend, sie sind sehr gross, und sie zeigen eigentlich fast nichts. Da ist z.B. ein Baum, und unten links ist der Vogel, und dieser Vogel ist in einem solchen Moment erwischt worden, dass man sofort weiss, dass es nicht möglich ist, einen Vogel so zu fotografieren, wenn man nicht lange darauf gewartet hat. Und das sind zwar grossformatige Fotografien, aber das eigentlich Magische daran ist nur dieser kleine Vogel, dieser unwiederbringliche Moment.

MARIANNE MÜLLER: Und warum sind diese Bilder so gross?

PATRICK FREY: Ich glaube, die abgebildeten Vögel entsprechen dann gerade ihrer natürlichen Grösse. Sie sind vielleicht auch ein bisschen grösser. Ich glaube, sie kämen sonst gar nicht zum Vorschein. Es ist berechtigt, dass diese Fotos so gross sind, denn dadurch entsteht ein riesiger Raum, in dem dann irgendwo der Vogel ist. Die Grössenrelation von Raum und Vogel muss einfach so sein. Du hast ja auch gesagt, Susanna, dass es Leute gegeben hat, die sich über die Ausstellung von Marianne aufgeregt haben.

SUSANNA KULLI: Ja, aber sie konnten vielleicht gerade deshalb, weil sie die Heterogenität der Ausstellung nicht ertrugen, ihre Kritik nicht formulieren. Natürlich könnte man verschiedene Ausstellungen aus dieser einen machen, z.B. eine mit Akten oder eine andere mit Selbstporträts etc. Ich finde es hingegen spannender, alle Fotografien zusammen zu zeigen, denn mich interessieren gerade die Brüche zwischen diesen Bildern.

PATRICK FREY: Es ist klar, dass man das Bildmaterial von Marianne bruchloser inszenieren könnte. Man könnte z.B. Bedeutungen herstellen, indem man die Bilder anders gruppiert. Urs Lüthi z.B. hat solche Kombinationen gemacht, etwa das Meer und Selbstporträts.

SUSANNA KULLI: Das war auch verführerisch.

PATRICK FREY: Sehr verführerisch. Es ist eben die Fotografie, die einen lockt, das zu tun. Weil sie so bedeutungsleer ist und weil sie nur diese Oberfläche hat. Weil man in der Fotografie alles herstellen kann, Geschichten oder ein Ensemble.

PUBLIKUM: Auffallend ist, dass die Aktserie im Hotelzimmer komponierter wirkt, überlegter, dabei auch voyeuristischer als die anderen Arbeiten. Hier hat man das Gefühl, dass jemand anders dich fotografiert.

MARIANNE MÜLLER: Das ist aber nicht so. Sämtliche Fotos von mir habe ich aus der Hand oder mit dem Selbstauslöser gemacht. Die Schachtel Nr. 6, "Marianne I-XII (Striptease)", aus der auch zwei Bilder vergrössert in der Ausstellung hängen, thematisiert das mit dem Selbstauslöser, wenn man so will. Die Fotos in der Schachtel zeigen eine Serie, zeigen, wie ich am Morgen den Pyjama ausziehe und die Kleider anziehe. Das Lustige daran ist, dass man bei jedem Bild denkt, die Situation zwischen Kamera und Modell sei eine andere. Einmal denkt man, das sei eine Selbstinszenierung, dann denkt man, es sei schlecht gemacht. Oder man denkt, da werfe sich jemand in Pose, und dann ist es wieder, wie wenn jemand anders fotografieren würde. Es kippt so hin und her zwischen Kamera und Person, als würde sich die Beziehung jedesmal verschieben. Es changiert. Das hat aber nur am Rande stattgefunden. Ich war da viel mehr mit mir selbst beschäftigt. Es gibt auch nicht diesen direkten Blick in die Kamera wie beim "Striptease". Bei den "Hotelzimmer-Bildern" ist das viel geschlossener, das stimmt, der Prozess zwischen der Kamera und mir ist weniger sichtbar, sondern eher ein Ausleben.

PUBLIKUM: Interessant ist auch die Frage, wieviel Konzept vor dem Auslösen dahintersteckt. Wie zufällig benützt du die Kamera bei der Entscheidung, was dir wichtig ist? Man kann ja auch einfach abdrücken, das sind auch spannende Momente.

PATRICK FREY: Drückst du ab, wenn du nichts siehst, Marianne?

MARIANNE MÜLLER: Ja, auch. Es ist ein absichtsloses Umherschweifen.

Die Ausstellung Neue Fotografien von Marianne Müller dauerte vom 11. November 1995 bis 31. Dezember 1995.

Marianne Müller, geboren 1966, lebt in Zürich.

Patrick Frey, geboren 1949 in Bern, Schauspieler, Komiker, Autor, Verleger, lebt in Zürich.

Tonaufnahme, Transkript, Lektorat: Galerie Susanna Kulli, St. Gallen, 1995.

c Fotografien: Marianne Müller, Zürich.

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