Künstlergespräch: Peter Z. Herzog mit Stefan Banz, in der Galerie Susanna Kulli, St. Gallen
Zu der Ausstellung
SUSANNA KULLI: Peter Z. Herzog kennt man in St. Gallen sehr gut. Einerseits als stets interessierten Besucher von Ausstellungen, anderseits als Künstler durch die Arbeiten, die er in der ehemaligen Galerie Bea Mitschjeta in verschiedenen Ausstellungen gezeigt hat. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass man Papierarbeiten von Peter Z. Herzog in verschiedenen Buchpublikationen sehen kann. Er hat Bücher von Felix Philipp Ingold, Ingrid Fichtner, Sabine Hassinger, Oswald Egger und Mario Billia mitgestaltet. Nun habe ich mir, da Peter Z. Herzog seit einigen Jahren in Zürich lebt und die Galerie Bea Mitschjeta leider nicht mehr ist, gedacht, dass ich die neuen Arbeiten und Ideen von Peter gerne einmal längere Zeit um mich haben möchte. Dabei interessierte mich, wie sich Peters Arbeit seit seinen ersten Ausstellungen verändert hat. Ihnen gebe ich mit dieser Ausstellung die Chance, sich auf Peter Z. Herzogs neue Arbeiten einzulassen. Mir scheinen sie ungemein reich, vielseitig und offen, komplexe Kunstsysteme, die wie Igelstacheln in viele Richtungen gleichzeitig weisen.
STEFAN BANZ: Ich bin mit Peter vor anderthalb Wochen hier gewesen und war von der anarchischen Kraft, die diese Installation zum Ausdruck bringt, völlig fasziniert. Peter, welche Bedeutung hat für dich der Ausstellungsraum als Kunstkontext?
PETER Z. HERZOG: Ich erinnere mich an eine deiner Ausstellungen in Luzern, die "Der Anbau des Museums" hiess. Das fand ich eine der besten und interessantesten Ausstellungen, die ich je gesehen habe. Sie gab mir einen wichtigen Anstoss, darüber nachzudenken, in welchem Kontext ich mich überhaupt bewege: zwischen Galerien, Museen, Leuten, dem Alltag etc.
STEFAN BANZ: Bei deiner künstlerischen Arbeit ist für dich der Kontext der Kunst als Weisser Kubus vorgegeben. Könntest du dir vorstellen, dass deine Arbeit x-irgendwo auftaucht?
PETER Z. HERZOG: Jede Situation wirft spezifische Impulse oder Zusammenhänge auf, die nicht überall thematisiert werden können. Der White Cube, die Galerie oder das Museum, das sind Orte, an denen traditionellerweise Kunst primär gezeigt wird. Meine Kunst könnte aber sehr gut zum Beispiel in einer Metzgerei stehen.
STEFAN BANZ: Das würde dann heissen, dass deine Arbeit immer auch einen gesellschaftlichen Bezug hat und nicht kunstimmanent ausgerichtet ist.
PETER Z. HERZOG: Genau. Aber sie beschäftigt sich nicht nur mit gesellschaftlichen Phänomenen, sondern auch mit metaideengeschichtlichen Problemen, mit Situationen, die sich aus unserer kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung ergeben. Es genügt nicht, dass ein Lebewesen einfach da ist. Vielmehr geht es um die politische Anerkennung verschiedenster Kulturen. Die weisse hypertrophiert zur Zeit einen Zerrspiegel nach dem andern. Meine wohlbedachte Aufgabe als nomadisierendes Lebewesen besteht nicht darin, in Darwins Karussellwelten einzusteigen. Jedoch möchte ich die mir zur Verfügung stehenden Sinnes- und Geisteskräfte auf eine bessere Koexistenz der Dinge, Menschen und ihrer Bedürfnisse ausrichten. Da sind wir schon inmitten der Liturgie: bei der Darbietung oder Umpolung gewisser energetischer Lebenspraktiken. Der interaktive Handlungsraum wird zum wichtigsten Faktor. Es geht um Dichtemessungen. Ich möchte hiermit nicht messianisch mit der Political-Correctness-Masche kokettieren. Sinngemäss versuche ich mit meiner Kulturforschung, unser geopolitisches Bewusstsein in sämtlichen Kontexten zu erfassen und stets auch als Korrektiv mit dem Alltag zu verweben. Nun, die Entscheidungskräfte sind nicht bei allen Lebewesen gleich stark entwickelt. Sowohl die Beeinflussbarkeit als auch existentiell bedingte Abhängigkeiten bestimmen die kleinsten alltäglichen Mikroentscheidungen direkt oder indirekt. Hot net all over. Egal, ob die Wirklichkeit nun aus der Haltung von einem Nomaden namens "Wäscha Kwomnesin", was soviel bedeutet wie "Der Vogel der nachts wandert", gelebt wird oder ob der Kunst im Sinn von Hannah Arendt nachgestrebt wird: "Kunst ist Kitsch, sobald sie sich aus den sozialen Zusammenhängen löst". Aus einer solchen Spannung wächst auch die Sehnsucht, etwas im Leben zu erfüllen, für sich zu erarbeiten, sich den allgemeinen Prozessen zu entziehen und sich selbst vielleicht mit irgendeiner Wahnsinnsidee zu verwirklichen, individuell, turbulent, explosiv. Die verdichtete Metzgerei im Sprachgebrauch setzt die inkarnierten Orbite frei.
STEFAN BANZ: Und wo würdest du da deine eigene Arbeit ansiedeln?
PETER Z. HERZOG: Ich habe ja auch diese Sehnsucht, etwas zu verändern in meinem und im Leben von anderen. Deshalb betreibe ich Fremd- und Selbsterforschung. Ich muss oder will mich pausenlos der Realität stellen. Aus dieser Wechselwirkung entsteht mein Verhältnis zu den gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Situationen.
STEFAN BANZ: Wenn man einen ganz anekdotischen Angang deiner Ausstellung hier wählen würde, dann beginnt die Ausstellung draussen, vor der Galerie, bei diesen estrichartigen Verschränkungen im Gang der Lagerhalle, an denen ein gelbes Schild mit der Aufschrift "wanderweg" zu sehen ist. Dieses Schild zeigt auf der einen Seite auf die Galerie, auf der anderen Seite aber zeigt der Pfeil des Schildes auch nach draussen; das könnte man so interpretieren, dass das Schild in einen anderen Ausstellungsraum zeigt, den der Kunsthalle zum Beispiel, oder dass das Schild in die Alltagsrealität zeigt. Was hat das für eine spezifische Bedeutung?
PETER Z. HERZOG: Das "wanderweg"-Schild funktioniert als indexikalisches Zeichen. Einerseits verweist es auf einen Innen-, andererseits auf einen Aussenraum. So steht das Zeichen in Analogie zu allen potentiellen Diskursen, die uns beschäftigen, jetzt, zu allem, was innen und aussen stattfindet. Durch dieses Band und dieses Schild tritt eine virtuelle Bedeutungsverschiebung ein: vom Wanderweg zur Baustelle, von der Baustelle zum Wanderweg, zu urbanen oder landschaftlichen Situationen. Das erweckt ein spezifischeres Bewusstsein als irgendwelche Artefakte, die im White Cube überpräsentiert sind. Mich interessiert es nicht, ein ästhetisches Vergnügen auf die Spitze zu treiben. Ich bin an kulturübergreifenden Kontexten interessiert.
STEFAN BANZ: Seltsamerweise hast du die Abschrankungen so gesetzt, dass sie hier den Raum schliessen und dort drüben. Ausgespart bleibt genau dieses Viereck, in dem wir uns jetzt befinden. Mit diesen Massnahmen schliesst du den administrativen Teil der Galerie weniger ein als vielmehr aus und verstärkst dadurch die Idee des in sich geschlossenen Weissen Kubus. Wieso hast du das genau so konzipiert?
PETER Z. HERZOG: Ich? Quantensprung, Schichtenpaket... Gestatte mir einen kleinen Eingriff in deine Wortwahl. Ich sage dem Fight Cube, als Gespensteraustreibung gedacht und gemacht, gegen den fatalen Schein des elektronischen und virtuellen Zaubers. Hier kommen die Leute herein und sehen zuerst die weissen Wände, die weisse Welt, den White Cube... Und dahinter dann: Ahoi Baustelle! Betreten erlaubt. Willkommen im Squatter Camp, das mit dem Fahrtenschreiber unterwegs ist. Die losen Abschrankungen signalisieren die Künstlichkeit sowohl der Innen- als auch der Aussenbereiche. Man kann jetzt systematisch das, was draussen passiert, mit meiner Ausstellung verbinden, auch den administrativen Raum der Galerie, der ein Teil eines globalen Geschehens ist. Wenn wir mit Internet und Homepage operieren, dann stellt das, was auf dieser Baustelle hier passiert, eine zusätzliche Verschärfung des ganzen telematischen Geschehens dar. Meine Arbeit ist ein Feld, das in einem klaren wirtschaftlichen, administrativen wie auch vermittelnden Rahmen ausgerichtet wird. Diese durchlässige Verwandlungsschwelle habe ich für meinen "environmentor in exploration" ausgelotet, damit keine ideologische Hierarchie entsteht. Die beiden Bänder hier hängen locker durch. Sie verhindern eine strenge Abgrenzung. Man kann über diese Bänder hüpfen. Die Absicht ist, vorgegebene Grenzen, die Furcht vor dem "Anderen" aufzuheben. Wir können dem auch loslassen sagen. Weitere Berührungsmomente stellen die 26 Zeitungsfotos her, diese biotektonischen Pflanzstellen, die in rhythmischen Abständen auf dem Boden liegen. Sie zeigen Bilder von der Osterinsel bis in den Jemen. Kein Sieg über die Natur. Meine Arbeit ist eine Survival-Strategie. Deinen Begriff "konzipiert" möchte ich mit dem Begriff "demonstriert" beantworten, mit einem "taming the dragon". In diesem weitesten Sinne wird in unserem Arbeitsstudio hier oder unterwegs nicht mit Realitätsebenen gespielt, sondern operiert.
STEFAN BANZ: Dann geht es eher darum, die Öffnung des White Cube zu thematisieren, und deine Arbeit zeigt das Problem auf, das bei dem Schliessen des Weissen Kubus entsteht. Durch die Bezeichnung der Öffnung soll die Öffnung verstärkt werden. In welchem Licht würde dann das Aquarium stehen, das diese Abgeschlossenheit ja auch thematisiert?
PETER Z. HERZOG: Das ist eine weitere Analogie, nur mit anderen Mitteln. Meine Arbeit ist eine Apparatur, die man in analogem Sinn mit dem Weltgeschehen in Verbindung bringen kann. Da stecken unterschiedlichste Textsorten drin, die sehr entscheidend sind für die allegorische Fassbarkeit und deren Aussagenverknüpfung. "environmentor in exploration" ist eine kybernetische Kläranlage. Susanna Kulli hat einmal gesagt, die Arbeit sehe aus wie ein Fabeltier, ein Drache. Klar. Letztlich ist das aber auch eine zu dekonstruierende Metapher. Die Gefahr der Metapher ist, dass sie zu stark ein Kommentar auf die Welt sein könnte. Das versuche ich zu unterwandern, indem ich mich an wechselbedingte und aufeinander bezogene Transfigurationen, triviale Versatzstücke und andere Fragestellungen herantaste, die in einem Bezug stehen zum real ablaufenden Leben.
STEFAN BANZ: Dann provozierst du auf der einen Seite die Problematik eines linearen oder anekdotischen Diskurses, den du auf der anderen Seite wieder in Frage stellst. Zu diesem Aquarium hast du gesagt, es könne ein Mikrokosmos sein, der darauf verweist, wie wir grundsätzlich leben. Auf der anderen Seite stellt sich dieser Mikrokosmos in Relation zu uns Betrachtern. Weil du diese Spiegel appliziert hast, begegnen wir uns selbst beim Betrachten.
PETER Z. HERZOG: Da gibt es ein Verhältnis zwischen Sprache und Spiegel. Das ist eine weitausholende Geschichte, die mich lange beschäftigt hat. In welchem Verhältnis kann man die Spiegelproblematik überhaupt so verschärft oder virulent transformiert zur Schau stellen, dass sie im allgemeinen Sinne funktioniert? Einerseits haben wir hier die Texte, die meine ganze Schizoeschatalogie thematisieren, andererseits diese Spiegel. Das steht in einem Verhältnis, in einem Prozess. Man könnte sagen, dass ich als Sprachfallensteller zur Spiegelenttarnung arbeite. Die Spiegel erzeugen wiederum eine eigene Physiognomie. Es sind sieben Spiegel, der siebte ist schwarz. Der kleine Knopfspiegel über dem Vogelkäfig agiert als "Allzweck-Geschichtsreiniger", die sechs anderen Spiegel arbeiten als Sensoren. Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, zero. Count down again and again. Die Sensoren antworten zwischen den stattfindenden Dialogen, selbst dann, wenn wir ihre Sprache nicht verstehen. Da gibt es Analogien und Dialoge zwischen diesen Spiegeln. Zwischen einem telematischen Medium, das sich in einem anderen Kosmos widerspiegelt. Nicht im Betrachter, sondern in einem viel komplizierteren System, als es der Betrachter je produzieren könnte. Es gibt Überblendungen oder verschiedene Schichten, energetische Elemente. Da in diesem Hundefressnapf befindet sich ein Kosmetikspiegel und auf diesem eine Menschenrosette, über der Menschenrosette befindet sich ein Filter bzw. eine transparente Scheibe mit einem steinzeitlichen Motiv, das ein Gebärritual darstellt. Hier werden verschiedene Zeiten ineinander gelagert oder übereinander geschichtet, wie bei einem Palimpsest. Das Auftragen verschiedener Schichten in einem Bezugsfeld oder das Abtragen derselben bewirkt einen fremdartigen Wahrnehmungs- und Empfindlichkeits- austausch zwischen den Materialien und Motiven. "Empfindlichkeitsaustausch" ist vielleicht ein Schlüsselwort. Jedes Individuum reagiert auf ganz bestimmte Empfindlichkeiten im Zusammenhang mit Materie mit Motiven bzw. Grenzverwischungen, Ungenauigkeiten, die hier dazu dienen, diese androgyne Mahlzeit in ein sinnliches bzw. sinnstiftendes Verhältnis zu übersetzen. Rückkopplungsschlaufen, Libido, Schwefelhölzer, Aquarium, die Libido unserer inneren Völker. Aquarium, vom Wort her slawisch: "akvarium", Wasserwesen in Varia. In dem Sinn ist das vorhandene Environment für mich eine Prozess-, genauer eine Interaktionsmaschine, die innerhalb der Umgangsweise der Anwender verschiedene Problemstellungen und -verknüpfungen sichtbar macht.
STEFAN BANZ: Wäre das dann eine Art Kommentar?
PETER Z. HERZOG: Nein. Hier wird Realität nicht parodiert, sondern produziert. Es geht um die Erfindung eines zweiten Lebens, das in der Kunst eine wichtige Rolle spielt.
STEFAN BANZ: Das Gebilde als eine selbständige Wirklichkeit?
PETER Z. HERZOG: Nicht nur. Es ist natürlich so, dass die Arbeit autonomen Charakter haben kann, aber sie steht immer auch in einer analogen Beziehung mit unserem Makrokosmos. Die geschlossene perfekte Illusion lehne ich ab. Alles steht in einer Wechselwirkung. Wir sind alle bionisch vernetzt. Die Autonomie des Werks ist auch so eine Illusion. Sie existiert zwar, vor allem in der Kunst ist sie wichtig, damit man überhaupt über die Illusion der Freiheit diskutieren kann, aber andererseits muss man vorsichtig sein. Es wäre besser, wenn wir uns mit gewissen Einschränkungen auseinandersetzen würden, als dass wir immer diese Illusion von Autonomie und Freiheit verkünden, die es nur bruchstückhaft gibt.
STEFAN BANZ: Das System hier ist letztlich der White Cube.
PETER Z. HERZOG: Systeme lösen einander ab wie die Präsidenten im Weissen Haus. Ich sehe nicht nur weisse Blutkörperchen, sagte White Cube. Hallo Eisberg! Die Chirurgen haben ihre Gewänder von Emergenzweiss auf Regenwaldgrün umgestellt. Mich interessiert, was zwischen Weiss und Schwarz passiert. Herausfordernd finde ich selbstverständlich auch die weissen Zähne, weit und breit, ein einziger geöffneter Fight Cube um uns. Das Extraweiss ist vielfach nur ein Überraschungseffekt. Weisse Big Mouse, ich klick dich an. Erfrischende Böen schwappen jetzt in das begriffliche Doping herein. Oder, ohne in der weissen englischen Sprache zu stammeln: "Ich entfalte mich quer zur Geschichte, quer auch zu den ach so putzigen Begriffen. Die weisse Geisterwelt verwandelt sich ins grüne Aquarium".
STEFAN BANZ: Du nimmst dir die Freiheit oder du erlaubst dir die Frechheit, das Ding nicht im Sinne des White Cube zu konzentrieren, sondern es mit unheimlich vielen Dingen anzureichern, so dass der Effekt des Ausuferns entsteht. Es kommt letztlich als eine kompakte Grösse daher, indem es diagonal in den Raum gestellt ist und eine bestimmte Grundform definiert. Doch mit all den Dingen, die da zusammenkommen und assembliert werden, wächst der Eindruck des Ausuferns.
PETER Z. HERZOG: Das ist bis zu einem gewissen Grad vorhanden. Es gibt einen Disseminationszustand im Umgang mit diesen diversen Gegenständen, mit den versponnenen Elementen, die eingesetzt werden. Autoreflexiv und explosiv.
STEFAN BANZ: Du entwickelst auch eine grosse ethische und moralische Komponente in deinem "Gestell". Ist das der richtige Begriff?
PETER Z. HERZOG: Das ist genau der falsche.
STEFAN BANZ: Wie würdest du dem denn sagen?
PETER Z. HERZOG: "Kybernetische Reflektieranlage". Kybernetik ist die Wissenschaft von vernetzten Informationen. Der Begriff wurde von Norbert Wiener 1948 für eine ganz bestimmte Wissenschaft und Disziplin verwendet. Es geht nicht nur um den allgemeinen Gebrauch von Vernetzung. Es geht darum, was dieser Begriff für mich bedeutet. Da komme ich auf Gordon Pask zu sprechen, der sagt: "Kybernetik ist die Wissenschaft vertretbarer Metaphern". Das ist ein sehr entscheidender, nicht moralischer, aber ein grundsätzlich ethischer und polemischer Begriff.
STEFAN BANZ: Wenn ich diese aufliegenden Büchlein betrachte, dann kommt immer das Wort "Environic" vor. Spontan lese ich "Environic" als Neologismus, der die Wörter "Environment" und "ironic" zusammenführt. Durch das ironic wirkt das Ganze für mich nicht nur seriös und ernsthaft, sondern durchaus auch witzig oder hintersinnig.
PETER Z. HERZOG: Der Wilde Westen wurde mit Ironie und viel weissem Dampf erobert. Ironie macht keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Sicher taucht das Metallische, Ironische, in aberhundert verträumten Plastikwörtern auf: von der Eisernen Lady bis zum Metal Pop Noise. Da müssen wir vorsichtig sein und nicht mit Sprachfantasien herumdilettieren. Ironie braucht die Kunst- und Literaturkritik immer, wenn sie nicht mehr weiter weiss. Als Notlösung wird eine Arbeit als ironisch gebrochen, experimentell oder komplex fragmentiert bezeichnet; das sind possierliche Vokabeln, Leerformeln der Kritik. In Tat und Wahrheit ist das sehr zweischneidig, denn so wird die eisern kriegerische Pointe der künstlerischen Tätigkeit ausgeblendet. Ich halte es mit Kierkegaard: "Die Ironie ist nicht so sehr selber der Empfindung bar".
PUBLIKUM: Man könnte diese Pointe mit Castanedas Figur des Kriegers verbinden, dessen Feld die Welt ist, und zwar als Feld ständig akuter Auseinandersetzung, als Konfliktpotential auf dem Weg zum Wissen. Deine Maschine als Initiationsfigur. Dem Krieger entspräche, als weiteres archaisches Element, auch das Gebärritual, und man könnte diese Linie zweifellos noch weiter verfolgen. Aber diesen Diskurs unterläuft zugleich der Diskurs des Scheiterns, des Versagens, der Unübersichtlichkeit in deiner Arbeit.
PETER Z. HERZOG: Es erhöht die Aufmerksamkeit, dass bei "Environic" die Polyvalenz von "Umgebung", "Iron" und "Virus" mitschwingt, eine Gefahr. Der Virus ist in diesem Wort die entscheidende Komplikation.
STEFAN BANZ: Deine Ausstellung ist für mich unter anderem spannend, weil sie Paradoxa produziert. Das heisst ja auch, dass jede Sinnsuche einen Gegensinn impliziert. Wenn wir vorher darüber sprachen, dass du einen ethischen Ansatz hast und sehr ernst bist, so finden manche Leute deine Arbeit auch sehr lustig. Das ist diese Gegenbewegung, die im "ironic" steckt. Deine Arbeit kann einen unterhaltenden Aspekt bekommen und einem durchaus etwas für den Bauch geben.
PETER Z. HERZOG: Wie zum Beispiel dieser Gymnastikball in einem Abfallsack, das ist auch so ein Bauch.
STEFAN BANZ: Ja, aber auch ein Teufel.
PETER Z. HERZOG: Da kriegt der ganze Erdellipsoid eine satanische Physiognomie. Das steckt natürlich auch drin. Eher Autophysiognomie als Autonomie. "environics & p.c. gender- mouse" ist auch erotisch, lustig, abgründig.
PUBLIKUM: Da sind aber noch die sieben Spiegel. Wenn du jetzt sagst, es handle sich eher um eine Autophysiognomie als um Autonomie, dann zeigt sich das Problem Spiegel und Autonomie. Du hast diese Spiegel so eingesetzt, dass sie den Raum widerspiegeln und vorgeben, dass das Ganze nicht nur selbstreferenziell ist, sondern über den White Cube hinausgeht. Deine Arbeit spiegelt Welt, wie man auch hineinschauen und sich selbst darin sehen kann. Das wäre der Moment, um die Psychoanalyse, die gegen ein autonomes Subjekt spricht, in die Kunst einzubringen. Ein wichtiger Prozess nach Lacan ist das Spiegelstadium, in dem das Kind zum ersten Mal erlebt, dass es unvollkommen ist, während es sich selbst doch immer als vollkommen vorgestellt hat. Das erstmalige Erleben einer fundamentalen Unvollkommenheit durch den Spiegel. Das heisst auch Kontingenz, Historizität.
STEFAN BANZ: Die Historizität führt einem immer wieder vor Augen, dass es die Vollkommenhiet in der reinen Form nicht gibt.
PUBLIKUM: Ja, nicht das grosse Spiegelkabinett, die grosse Illusion, sondern das ständige Reflektieren mehrerer Spiegel hinein in etwas anderes, in ständig neue Rahmensetzungen.
STEFAN BANZ: Könnten sich die unendlichen Brüche, unendlichen Paradoxa oder Unvollkommenheiten zu einem Paradigma steigern, eine absolute Komponente kriegen?
PETER Z. HERZOG: Krieg und Kriegen! Diese Anschlussstelle möchte ich nicht verpassen. Wie gesagt, vergegenwärtigen will ich nicht nur die Paradoxa oder den Welterlebnishaushalt, die stets auf- und untertauchen im koexistentiellen Netz, sondern insbesondere eine Vergewisserung über Sein und Grenze ermöglichen. Auch das Ogoniland ist hier vertreten. Diese Arbeit dort, meine "angewandte soziohistorische fabel", ist Ken Saro-Wiwa gewidmet, einem Menschen also, der für seinen Widerstand gegen die weisse Macht in einem dreckigen Loch eines nigerianischen Gefängnisses aufgehängt wurde. Der Malgrund unter den Texten zu Ali Trickster ist ein Erdölderivat, weisser Styropor, bemalt. Auf dem Boden, den Rändern entlang, dann die sich fortsetzende Metonymie der 26 Weltfotos. Auf dem Boden! Fassbar. Diese Fotos lösen weitere Atemproben ein. Mit Herman Melville gesagt: "Ich möchte lieber nicht", möchte lieber nicht in eine Sphäre ausweichen, in der sich alles in die Abwesenheit auflöst oder entzieht. Es gibt ja diese Schrift, die sich via Dekonstruktivismus in die Abwesenheit verlagert. Ich arbeite für die Anwesenheit.
STEFAN BANZ: Wie bist du damit in dieser Ausstellung umgegangen?
PETER Z. HERZOG: Mich interessiert die Öffnung hin zu einer poetologischen Totalität. Ich möchte ein Display finden, mit dem ich all die verschiedenen Realitäten, die geschichtlichen und subjektiven Versatzstücke, in ein multidiskursives System stellen kann. Ich trage Textbaustellen zusammen.
STEFAN BANZ: Heute fragte ich dich: "Warst du den ganzen Tag in St. Gallen? Und du sagtest: "Ja. Ich habe gewisse Dinge hier gemacht und verändert, wahrscheinlich hast du das gar nicht gemerkt, unsichtbare Dinge." Das heisst, es geht dir um Feinheiten, komplexe Nuancen. Indem du Materialien nimmst und in einen anderen Kontext stellst, missbrauchst du sie aber gewissermassen auch.
PUBLIKUM: Mich stört es, dass du das Wort "Missbrauch" verwendest. Das Wort geht von einem Gebrauch aus, von einer Norm, von einer Normalität, es tut so, als ob es so etwas gäbe wie den richtigen Gebrauch einer Sache, und dann ist ein Missbrauch immer schon das Falsche und jede Ent- oder Verfremdung dieser Sache und ihres konventionellen Gebrauchs steht dann schon unter einem negativen Vorzeichen. Wer hingegen mit dem Begriff "Perversion" arbeitet, der spricht, etymologisch gesehen, von einer "Umdrehung". Das finde ich neutraler. "Missbrauch" impliziert eine moralische Norm, während Perversion eher mit aktivem Umdrehen und Verdrehen konnotiert ist.
STEFAN BANZ: Aber wenn wir an das Aquarium denken, so könnte man durchaus sagen, dass die Verwendung der Fische eine Form des Missbrauchs darstellt, die Domestizierung eines Lebewesens, das eigentlich in einer ganz anderen Umgebung leben würde.
PUBLIKUM: Das ist ein schon immer domestizierter Fisch, kein Zuchtlachs. Inwiefern wäre diese Arbeit dann ein moralisches Statement?
STEFAN BANZ: Meine kleine Tochter wollte unbedingt ein Haustier, und weil sie noch sehr klein ist, haben wir uns entschieden, zwei Fische zu kaufen. Wir haben diese Fische im Aquarium beobachtet. Einer der Fische hat, immer wenn der Deckel des Aquariums auch nur für kurze Zeit, offen war, einen Anlauf genommen und ist mit einem Riesensatz aus dem Aquarium hinausgesprungen. Zwei, drei Mal haben wir das miterlebt und den Fisch ins Wasser zurückgeführt. Einmal ging er uns fast zugrunde, als meine Tochter vergass, den Deckel wieder auf das Aquarium zu legen, nachdem sie die Fische gefüttert hatte. Nach einer gewissen Zeit sagte meine Tochter, sie wolle diese Fische nicht mehr haben, sie sollten wieder in "Freiheit" leben. Ich musste die Fische mit ihr zusammen in einem Gewässer mit anderen Goldfischen freilassen. Diese Geschichte ist nicht so selbstverständlich. Es macht keinen Unterschied, ob das jetzt ein Lachs oder ein Goldfisch ist.
PUBLIKUM: Dennoch gibt es für dich so etwas wie eine Natur, aus der man die armen Fische herausnimmt und ins Aquarium steckt. Wenn du erzählst, es gäbe einen reinen wahren Ort des Fisches, dann musst du auch von Missbrauch sprechen. Genau das aber scheint mir ein bekannter Aneignungsprozess dessen zu sein, was wir gemeinhin Natur nennen. Wir glauben immer zu wissen, was Natur sei, und dabei dient uns die Natur nur ständig als Projektionsfläche, sei es für das Andere, sei es für das Wilde oder was weiss ich. Das sind aber im Prinzip nur Spiegelprojektionen. Solche Mechanismen dürften hier auch thematisiert werden: das freie Gewässer als idealistische Konstruktion.
STEFAN BANZ: Ich habe von keinem reinen wahren Ort des Fisches gesprochen. Mir ist dieser Gedanke nur so gekommen, verstärkt durch die Spiegel, die am Aquarium befestigt sind und in denen ich mich selber als Betrachter wiederfinde, indem ich diese Fische betrachte. Das Aquarium ist eine ganz einfache Metapher für ein Gefängnis. Es thematisiert das, was Peter am Anfang vom Problem der Einschränkung gesagt hat.
PUBLIKUM: Auf der anderen Seite entgrenzt das Aquarium auch, wenn es zum Beispiel diesen Diskurs freisetzt, imaginäre Reisen in Kinderzimmer und freie Gewässer ermöglicht oder das Eintauchen in ökologische Probleme und Mythen.
PETER Z. HERZOG: Die artifizielle Funktion des Aquariums ist ein real zirkulierender Organismus, eine Art flüssiger Testpilot. Dazwischen und dahinter befindet sich die Telearbeitsgesellschaft auf dem Prüfstand. Darunter Indices: Heu, Reagenzgläser und Bierdeckel, auf denen verschiedene Pferde abgebildet sind. Das Pferd war das Rückgrat der skythischen Nomadengesellschaft. "Himmel und Erde sind ein Finger, alle Dinge sind ein Pferd", heisst es bei Chuang Tzu. Obendrein liegen da Münzen mit Verstand, Schwefelhölzer usw. Es ist ja nicht so, dass diese Fische domestiziert sind. Sie müssen keine S/M-Nummer abziehen oder Fussball gucken. Die Fische, als Indikatoren für feinste Veränderungen im Wasser, sind hochempfindliche Lebewesen. Sie spielen eine dramaturgische Rolle wie die lebendigen Figuren bei Sophokles, ein stummer Chor, der im ganzen Geschehen eine andere Rolle verkörpert als jene, auf die du diese ausserordentlichen Ureinwohner des Wassers reduzieren willst. Darüber hinaus ist nachhaltig hinzuzufügen, dass meine Arbeit keinen Kommentar zum Weltgeschehen beabsichtigt, doch haben wir einiges geerbt, mit in das Sagen einzubeziehen, auch Momente aus der Kultur, die aus der Steppe kam. Meine Arbeit ist ein Seh-Pferd. Spannen wir den Bogen von der Wildnis nun wieder zum Aquarium. Man kann es möglicherweise als weiblichen Bauch und Kopf in einem sehen. Die Intelligenz kommt von der Frau. Und noch ein unsichtbarer Zusatz: Ich haben den White Cube in Gestalt eines Würfelzuckers in das Fischrevier eingeführt, um den Spiegel des Spiegels aufzulösen. Dies nur als kleiner Hinweis zur chemischen Verwandlung der vorgegebenen Bezugspunkte, zu den Feinheiten. Dieses Unterwasserspiegelsystem birgt manch semiotische Überraschung.
STEFAN BANZ: Akzeptiert. Hier kommen unterschiedlichste Realitäts- oder Material-, Bedeutungsebenen zusammen und konstituieren ein Ding, das sich als visuelle Wirklichkeit präsentiert. Man könnte sagen, dass dieses andere Werk hier durchaus ähnlich funktioniert, aber mit ganz anderen Mitteln, den Mitteln der Sprache. Sobald die Sprache zu einer Leitlinie wird, sind wir durch die Art und Weise des Lesens einer Linearität unterworfen. Interessiert dich das Problem des Gefangenseins im Lesen von links nach rechts? Ist das ein Element deiner "angewandten soziohistorischen fabel"?
PETER Z. HERZOG: Das ist ja nicht ein Text wie in einem Buch oder einer Zeitung. Durch die Simultaneität der diversen Texte entsteht die Möglichkeit, im Zentrum oder an der Peripherie, unten oder oben zu beginnen. Das ist das Gegenteil von einem linearen Prozess: ein rhizomatischer Prozess. Deshalb habe ich diese Arbeit so gemacht, sonst könnte ich ja damit auch ein Buch schreiben. Der Schreib- und Leseprozess allerdings, formal betrachtet, hat zwar stückweise wieder eine lineare Relativität, doch gibt es Möglichkeiten, inhaltlich wie auch formal, bei entsprechender Versammlung der Dinge auf dem Texttableau die Aussagenverkettung anders zu transformieren. Sie funktioniert nicht wie ein Bild, sondern wie ein Musikstück. In dieser Beziehung bin ich Textkomponist. Ich verwende das Material, den Buchstaben, und komme durch Buchstabierungen zu ganz bestimmten Wendungen, zu Über- und Untersystemen, die als Scharniere wiederum in einem gesamten Komplex agieren, aber nicht der Konvention entsprechen. Der Nabokovsche Trichter aus seinem Roman "Fahles Feuer" dort in meinem "environmentor"-Gefährt, das ist zum Beispiel die Demontage der Linearität, die wieder den Derwischen, unseren Goldfischen, eine kosmologische Interlektüre zuspielt. Das Buch steht dabei, geöffnet, auf dem Schachbrett, mit den zwei Feueranzündern, die als Damen, Funken sendend, beobachtet werden. Beobachten heisst hier mehr als sehen, widerspiegeln, bedeutet mehr als eine Wahrnehmungsschule. Jede Beobachtung ist eine Beobachtung am Beobachter, wie Georges Devereux sagte. Jede Beobachtung ist autoreflexiv und von daher auch in einem gewissen Sinne explosiv: Wir alle versuchen uns mit Beobachtungen zu verantworten, werten Beobachtetes aus. Das gilt auch für die Kunst.
PUBLIKUM: Wie gehst du denn vor, wenn du ein Buch gestaltest? Wie sind zum Beispiel deine Papierarbeiten zu Mario Billias Anagrammsonetten enstanden?
PETER Z. HERZOG: Marios Anagramme sind ein buchstäbliches Kykladenwetter. Kühne Formulierungen plus unheimlich schnell zuckendes Fleisch. Während ich die sprachlichen Elemente, Körper, Buchstaben etc. in ihrer stets latenten Verletzlichkeit kaleidoskopiere, übersetze und dadurch in einen bildhaften Zustand herüberbringe, entsteht ein neurologisches Reizfeld aus Gefühls- und Gedankentexturen. Meine Methode ergibt sich aus tausendfältigen Brechungen des zu bearbeitenden Stoffes in der Durchdringung der Dinge. Eine solche Vorgehensweise setzt einerseits abgründige Fantasien frei, andererseits verbinde ich diese Methode natürlich mit unzähligen Felduntersuchungen, die das vorhandene Anathema oder Anagramm zusätzlich beleben. Detektivisch, beharrlich auf der Spur. Wie Francis Bacon in der Malerei den menschlichen Körper blossstellt, möchte ich in der Sprache des benervten Zeichens und der atmenden Worte die entsprechenden heissen Nervensysteme erfahren.
PUBLIKUM: In welchem Verhältnis zur Ausstellung steht das Buch von dir, das drüben in der Vitrine liegt, das Künstlerbuch "context & reality research"?
PETER Z. HERZOG: Das Buch verhält sich zur Ausstellung wie ein Black Hole. In dem Buch gibt es Notizen zur abendländischen Kulturgeschichte, auch kleine Bemerkungen, die an jene erinnern, die nicht überleben durften. Es initiiert sozusagen die Vorbereitung von materiellen Inhalten für das environmentale Geschehen. Das Buch beginnt gleichzeitig hinten und vorn. Dabei durchkreuzen sich mannigfaltige Echostücke ohne Endgültigkeit. Humus reichlich. Vor allem aber ist das "context & reality research"-Buch eine weitgreifende Auseinandersetzung mit der Topographie des interkulturellen Bewusstseins, erdacht und realisiert mittels stichwortartiger Themenansätze, um das Gehen und Schreiben und Wandeln auf Fingerspitzen zu üben.
PUBLIKUM: Findet dadurch, dass du es dem Betrachter dieser Wandarbeit freistellst, die Leserichtung zu bestimmen, bei dir eine Art Deautorisierung statt, wählst du ein antiautopoetisches Verfahren?
PETER Z. HERZOG: Der Betrachter kann von den Rändern zur Mitte und umgekehrt in diesem Schreberschen Textgarten herumwandern. Die Ko-Autorenschaft wird zur tatkräftigen Beseelung dieses Gartens. Deine Fragestellung zur Deautorisierung ist ein ausserordentlich knackiger Vegetationspunkt der Theorie. Theorien jedoch drehen sich bekanntlich meistens um sich selbst. Es ist schon vom Tod des Autors und anderer Entitäten gesprochen worden. Et resurrexit. Denn wir können die Köpfe nicht abschaffen. Die Autorinnen und Autoren sind immer da. Irgendjemand macht immer etwas, stellt etwas an, verändert den Lauf der Dinge. Antiautopoetische Verfahren entstehen in ihren neugeborenen Nachfahren von Text zu Text, verbunden mit Verfahren aller Art. Hier müssen wir den Begriff der Metamorphose einführen statt zwei- oder eingleisige Begriffe wie "Deautorisierung" oder "Antiautopoesie" verwenden.
STEFAN BANZ: Man kann zwar mit dem Lesen beginnen, wo man will, aber sofort ist man drinnen im Sprachbad.
PETER Z. HERZOG: Man kann diese Arbeit als einzelne Arbeit sehen. Doch finde ich es hilfreich, statt der autonomen Single ein interaktives System intakt zu halten.
STEFAN BANZ: Wie heisst diese Arbeit dort hinten?
PETER Z. HERZOG: Diese Arbeit ist ein Bestandteil des ganzen Environments. Einen eigentlichen Titel wollte ich vermeiden. Mögliche Untertitel wären "mimosen", "meridiane der bienensprache über dem freien Wasser" oder "tele-tale". In dieser Tela-Partitur lassen sich die Schichten von 46 immens gegensätzlichen Erzählsubjekten übersetzen. Es wird reine Übersetzungsarbeit gefordert: Solve et coagula. D.h. die Tresoren werden schlicht gesprengt. Sicheren Benennungen möchte ich lieber nicht mit dem Schmetterling im Bauch ausgeliefert sein.
STEFAN BANZ: Und warum nicht?
PETER Z. HERZOG: Es gibt dafür eine ganz einfache, aber für mich umfassende Maxime: "Stellen Sie Autorität in Frage!" Sie ist eine Chimäre! Worüber wir nicht sprechen können, darüber müssen wir im Gehen die Chromosomen summen lassen. Aber mit Verstand. Wahrscheinlich summte auch Schubert seine Chromosomen bzw. sein "Winterlied" zuerst einmal falsch vor sich hin. Aber dann! Chromosomen sind wie Gene oder Zellen hochkomplizierte Überlebensmaschinchen: All diese Bausteine zusammengefügt sind mehr als die Summe ihrer Teile. Folglich sind sie Empfindungsvermögen in Aktion: wie Libellen, Schmetterlinge, Bienen die ja bekanntlich auch die allerfeinsten Geschmacksnerven haben. Und sogar wir haben dieselben Gene wie die Stubenfliegen. Natürlich gibt es nicht nur Flieger im allegorischen "Garten der Lüste". Einfacher zusammengefasst, in summa: Ich fordere die Feinfühligkeit in Rückkoppelungsschlaufen und die Achtung allen Lebens. Das muss dauernd neu durchgesetzt werden.
PUBLIKUM: Du hast vorhin den Begriff "Virus" verwendet. Es gibt verschiedene schöpferische "Virologen" in unserem Jahrhundert. Zum Beispiel spielt der Begriff in den "Virus"-Zeichnungen von Thomas Hirschhorn eine wichtige Rolle. Und Burroughs, dessen Name auf einem deiner 3D-Gucker steht, hat diesen Begriff literarisch fruchtbar gemacht. Er hat über das virusartige Eindringen der Wörter in unser Bewusstsein nachgedacht und über die Möglichkeiten, ihrer Kontrolle zu entgehen. Viren übertragen ja Informationen und stören dadurch feste, geregelte Codes.
PETER Z. HERZOG: Burroughs spricht im Zusammenhang mit der Sprache von einem Virus: "Die Sprache ist ein Virus aus dem All". Das ist eine hochspannende Interpretation eines Werkzeugs, von dem wir immer wieder neue Einsichten in die Relativität unseres technologischen Verständnisses gewinnen. Über Kleinstbestandteile, gigawinzige Mikroben, werden Elemente gebildet, die sich über lange Zeiträume entwickeln oder einfach dahinvegetieren. Die Zeit springt ihnen also nicht davon. Denn irgendwann brechen sie aus und versetzen uns in Panik. Das ist innerhalb verschiedenster Arbeits- und Lebensbereiche von hoher Bedeutung. Man spricht zum Beispiel vom Computervirus. Es ist interessant, dass kleinste Teile radikale Veränderungen hervorrufen und Bestehendes nachhaltig umstürzen können. Jetzt arbeiten wir an einer neuen Technologie, die vielleicht ein viel komplizierteres Zeitalter in Bewegung bringen und Möglichkeiten zum Leben erwecken wird, die traumatische oder fast schon groteske Vorstellungen bewirken können. Wenn man an diese Mikrochips denkt oder daran, dass man uns irgendwann einmal Sprachchips operativ einpflanzen könnte, so ist das schon sehr bedrohlich. Darum müssen wir im Kleinsten beginnen, in kleinsten mikropolitischen Zusammenhängen ein Bewusstsein fördern und nicht nur die Technologien benutzen und schreien: "Hurra! Jetzt haben wir wieder alles so schnell hingekriegt". Alles läuft im Zeitraffersystem ab, und gleichzeitig gibt es andere Dinge, die wir gar nicht in den Griff kriegen, weil wir zu schnell denken und handeln, in blitzschneller Linearität, und die Alterität ausser Acht lassen!
PUBLIKUM: Wenn ich richtig verstanden habe, dann hast du sieben Spiegel in der grossen Arbeit "environmentor in exploration" verwendet. Sind sie zusammengeschaltet?
PETER Z. HERZOG: Sie sind durch die Nervendrähte sowohl imaginär als auch anorganisch zusammengeschaltet. Hat jemand eine Seele für Gesteine? Genaugenommen funktionieren diese transfigurierenden Spiegel wie die Synapsen von realen Echtzeitverhältnissen. Gründliche Vorsichtsvertiefung im Aquarium ist angesagt.
PUBLIKUM: Und der siebte Spiegel, ist das der schwarze Punkt auf Augenhöhe in der Ecke dort?
PETER Z. HERZOG: Dort ist nochmals ein anderer Geist, wie ein Brennpunkt zwischen einem ewig möglichen Beginn und dem kybernetischen Gefährt. Der siebte und schwarze Spiegel ist auch ein Schmelztiegel der gesamtgeschichtlichen und virtuellen Kontingenz. - Gleichzeitig sind solche allzu kühnen Formulierungen als schwarzes Loch zu bezeichnen. Ein schwarzes Loch ist unsichtbar, das grösste Rätsel des Universums. Licht wird verschluckt, also nicht reflektiert. Für mich ist es kein Rätsel, sondern eine Gesichtsfaltung, die das Vergessene evoziert, verstärkt, nämlich dessen Potentiale, die zwischen den Schwefelhölzern und den Dinosauriern etc. spielen. Was so alles passieren oder wiederum ausgelöscht werden kann auf und in der Sprossenleiter... Unter den versammelten Dingen befindet sich auch ein anonymes menschliches Haar, das wahrscheinlich niemand auf dem Rücken des Drachen entdeckt hätte.
PUBLIKUM: Und der Funke?
PETER Z. HERZOG: Der Funke birgt Wärme, Begierde, Grenze, Gefahr, Geisterbewegung zwischen Erwartung und Überraschung.
STEFAN BANZ: Deine Arbeit, wurde gesagt, soll sich in alle Richtungen entwickeln. Gleichzeitig aber gibst du deiner Kunstmaschine eine klare Ausrichtung. Die Auslegebank, an die auch das Aquarium und die prähistorische Funkstation angeschlossen sind, ist klar auf den schwarzen Spiegel in der Wandecke ausgerichtet.
PETER Z. HERZOG: Einerseits weist diese Queerness, diese verwucherte Achse auf ein labiles Gleichgewicht unter den Dingen hin, andererseits ist sie eine direkte Verbindungslinie zur Durchdrungenheit der Dinge.
PUBLIKUM: Das laufende Übertragen wirkt reinigend. Ich denke jetzt an schmutziges Geld. Wenn man das laufend auf ein Bankkonto überträgt, so ist es am Schluss sauber. Oder wenn man einen Pilz rein heranziehen will, so ist er am Anfang verschmutzt, da hat es allerlei dabei, dann muss man ihn immer wieder auf einen neuen Nährboden übertragen.
PETER Z. HERZOG: Es geht um Analogien. Es gibt Parallelen zu verschiedenen chemischen oder wirtschaftlichen Prozessen. Ich bin nur ein Teil von diesem Ganzen. Ich bin kein ausgeprägter Schöpfertyp. Es ist eher so, dass die Sachen auch mich hervorbringen. Eine umgekehrte Vorstellung von Kunst. Mit dieser Ur- oder Echtzeit-Situation wird ein Dialog darüber hergestellt, dass bestimmte Materialien lebensnotwendig sind und die Welt darstellen. Wie z.B. beim "Heuwagen" von Hieronymus Bosch. Übrigens könnte man meine Arbeit auch als Interlektüre zu Boschs "Garten der Lüste" ansehen. Das ist für mich das bahnbrechendste abendländische Bild überhaupt. Dieses Triptychon hat eine völlig ausufernde Heterothematizität. Die Flügel sind so besonders. Da siehst du ein Altargemälde, das geschlossen ein Diptychon ist und geöffnet ein Triptychon. Das ist wahnsinnig. Aus kabbalistischer Perspektive ein völlig abenteuerliches Universum. Das Bild ist bevölkert von menschlichen und tierischen Gestalten, Aliens tauchen auf oder eben auch Requisiten, Naturalien, Farben, dieses Grün etc. Hintergrunds-Chaos wird irgendwann einmal in Bewegung gebracht und verschiebt die Bedeutungen. Das kann bis zur totalen Schizoeschatologie führen. Wir erleben die Welt auch als Tragödie. Das ist nicht nur ein Zeichen.
PUBLIKUM: Sie haben vom Virus als etwas Bedrohlichem gesprochen. Wenn ich Ihre Arbeiten betrachte, dann bin ich vom Virus der Sprache, der Buchstaben einerseits und von dem der Gegenstände und Farben andererseits so voll mit Ideen, dass in mir eine riesige Hoffnung entsteht. Nun gut, ich bin Optimist.
PETER Z. HERZOG: Ich habe da einen anderen Respekt vor der Mikrowelt, werte anders. Es geht nicht darum, den unscheinbaren Erreger schlechthin als Bedrohung zu orten. Gibt es virusfreies Saatgut? Es gibt Virosen im Getreide und andernorts. In uns treiben sie ebenso. Optimismus steht immer in Zusammenhang mit der Steuerbarkeit von Optionen in diesen mikrologischen Vorgängen. Der Mensch erforscht die Codes der Materie, bringt den manchmal erwiesen gefährlichen Fortschritt mit allen optimistischen Hoffnungsträgern up to date. So weit so gut. Dieser Mensch spielt eine einzigartige Rolle, aber nicht als Gipfel der Schöpfung. Wir sind in das technologische Zeitalter der Cyborgs übergetreten. Deren Obduktion hängt von der Art und Weise ab, wie ihr Mythos kritisiert wird. Darum bin ich ein entschiedener Verfechter einer Ideologie-Kritik, die durch Kunst divergente Sinnstiftungssysteme erforscht. Kann eine solchermassen potenzierte Vorsichtsvertiefung etwas sagen über die tatsächliche Problematik, die sich entwickelt und allenfalls korrigieren liesse? Ich habe einen zu grossen Respekt vor all den möglichen typisch tückischen Organismen. In poetry clearing. So verstehe ich meine Studien zur Wirklichkeit.
Im Rahmen der Ausstellung Peter Z. Herzog, Recent Access ein Künstlergespräch mit Stefan Banz am 27. Juni 1997. Die Ausstellung dauerte vom 24. Mai 1997 bis 12. Juli 1997.
Peter Z. Herzog, geboren 1950 in Basel, lebt in Zürich.
Stefan Banz, Künstler, geboren 1961 in Sursee; verstorben 16. Mai 2021.
Tonaufnahme, Transkript, Galerie Susanna Kulli, St. Gallen, 1997. Lektorat: Florian Vetsch, 1997.