Thomas Hirschhorn, Ruheraum mit Tränen, Abtropfmaschine, Galerie Susanna Kulli, St. Gallen

Brief von Thomas Hirschhorn

an Susanna Kulli im Vorfeld zur Ausstellung 1996

Abtropfmaschine und Ruheraum mit Tränen.

Liebe Susanna,

Ich will hier versuchen zu erklären, was ich bei Dir machen will. Ich will die Galerie in 3 Räume teilen. Den ersten Raum, wenn man reinkommt, will ich ganz leer lassen, ohne irgendwas. Ich will damit zwei Sachen erreichen. Erstens Raum schaffen zum Eintreten und Weggehen von meiner Ausstellung, eine Art Atemraum. Zudem soll er schon beim Hereinkommen anzeigen, dass da nichts an den Wänden zu sehen sein wird. Der Raum soll bewusst leer gelassen worden sein, um, das ist der zweite Grund, mal die Demonstration zu machen, dass ich nicht alles immer füllen muss, weil ich nicht anders kann und halt nicht aufhören kann. Sondern ich will, dass man merkt, dass dieses Viele gewollt ist. Und das scheint mir durch diese Raumaufteilung möglich. Der erste Raum wird gegen links durch Transparentplastikfolie geschlossen. Das heisst man kann nur geradeaus in Raum 2 gehen. Links sieht man durch die Plastikfolie aber schon den anderen Raum durchschimmern. Im 2. Raum dann, der auch durch Plastikfolie in der Mitte getrennt ist (Verlängerung der Plastikfolie von Raum 1 bis fast an die Wand am Ende der Galerie), steht eine grosse, zentrale sogenannte Abtropfmaschine. Das ist eine Arbeit, eine neue. Auf einer grossen Fläche, dem Raummittelpunkt (ich weiss die Masse nicht genau), steht ein Tisch. Auf dem Tisch sind meine neuen Arbeiten ausgelegt. Auf Silberpapierfolie. In einer Ecke des Kastens, der über dem Tisch mit Holzlatten und durchsichtiger Plastikfolie konstruiert ist, steht ein Videogerät und zeigt eine der Arbeiten (Virus-Serie) in ganz leichter Bewegung. An der Decke des etwa 2.50 – 3 m hohen Kastens sind Neonröhren installiert, die den Kasten beleuchten. Die Unterseite des Holztisches ist mit Tropfen aus zusammengeknülltem Silberpapier beklebt. Eben: eine Abtropfmaschine. Die Konstruktion will ich raumfüllend, aber prekär, schnell gemacht, aber determiniert. Das Video soll sagen, dass nicht nur diese hier ausgelegten Arbeiten abtropfen müssen, sondern dass es um das allgemeine Abtropfen geht. Denn das auf dem Video gefilmte Stück Arbeit ist ja nicht wirklich physisch da. Auch in dem Raum 2 sieht man natürlich links schon, wenn auch leicht getrübt, die andere Arbeit durch die raumteilende Plastikfolie. Jetzt zum dritten Raum, in den man nur durch den ganz hinten liegenden schmalen Durchgang kommt (ca. 1.50 m breit). Es ist der sogenannte Ruheraum mit Tränen. Auf ca. 12-16 Tischen, die mit Kehrichtplastiksäcken bedeckt sind, liegen, verbunden durch Silberpapierfolie, meine Virus-Arbeiten. Vertikal hat es jeweils Holzlatten, an denen die Silberfolie rauf- und runtergeht, von einem zum andern Tisch. Alles ist miteinander verbunden. Hat kein Ende und keinen Beginn. Irgendwo, vielleicht an der Stirnwand, hängen zwei Tränen, auch aus Silberpapier. Es ist das Einzige, was es an der Wand hat. Ich will, dass man um alle Tische herumgehen kann, sie müssen also etwa 1 m von der Wand oder vom andern Tisch wegstehen. Ich weiss nicht, wieviele Tische es braucht. Ich will, dass der Raum voll ausgenützt ist. Es kommt auch auf die Grösse der Tische an. Sie können auch verschieden gross sein. Das Ganze ist auch hier präzise gedacht, aber schnell gemacht, hat keinen Anfang und kein Ende. Soll aber ruhen. Die Dispositionen sind ganz verschiedene, zum Analysieren bereite oder zum Sezieren ausgelegte. Die Unterschiede sind ausgebreitet, dargelegt.

Es geht um diesen Sinn, das ausgebreitete Unterschiedliche, Unbegreifbare als Sinn. Das muss man einfach als Ruhendes annehmen, ohne Geheimnis, ohne Utopie, aber in einer starken eigenen Form. Die an der Wand hängenden Tränen sind ein Bruch, ein Hinweis vielleicht auf Bilder an der Wand, sie sollen das nichtkonzeptuelle, sentimentale Element der Arbeit aufzeigen. Und trotzdem gibt es keine Geschichte, natürlich, das Sentimentale ist eine Möglichkeit des Umgangs mit der Welt. Zurück muss der Besucher wieder durch den einzigen Durchgang, wenn er überhaupt reingegangen ist in den Ruheraum! Es ist nämlich gar nicht unbedingt nötig. Denn die Sicht soll schon vom Durchgang aus klar und eindeutig sein. Nun, hier ist es sehr wichtig, dass es viel Licht hat im Raum 3. Ich hoffe,das ist der Fall. Wenn möglich nur Neonlicht, wegen der Kälte. Es soll kein Abstellraum sein!

Nun zum Material. Ich fände es am besten, Susanna, wenn Du dich jetzt schon umschaust, wo man das Material herkriegt. Ich kann dann das, wenn ich da bin, holen. Aber das wichtigste ist für mich, dass ich weiss, wo es dieses Material gibt. Also ich brauche: viele Holzböcke, Holzplatten, auch gebrauchte natürlich, verschiedene, auch Tische gehen. Dann Holzlatten, nicht zu fein, so viel wie Tische, aber noch mehr, um den Abtropfkasten zu machen. Dann einen Videomonitor, kann klein sein, mit Recorder, VHS, mit Autoreverse-Möglichkeit (endlos). Dann einige Neonlampen, Fluoreszenttubes (auch gebrauchte) für den Abtropfkasten und Kabel. Dann viel Silberpapier, im Hotel- oder Küchenbedarf gibt es 100 m Rollen (60 cm breit). Dann Plastikkehrichtsäcke (unbedruckt). Dann noch transparente Plastikfolie, 1mal dünner für den Kasten und 1mal dicker für die Raumabgrenzung. Dann viel, viel Licht, vor allem im Raum 3. Ist das O.K.?

Liebe Grüsse.

Thomas Hirschhorn, Paris, 20. April 1996

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